Carl von Ossietzky Biografie: Reichstagsbrand und Tod (1933-1938)

(Lesezeit etwa 7 Minuten, Stand 15. März 2023)

Sie befinden sich im vierten und letzten Kapitel der Biografie „Carl von Ossietzky in 30 Minuten“:

  1. Erste Jahre und Liebe zu Maud Hester Lichfield-Woods (1889-1914)
  2. Soldat im Weltkrieg und Friedensaktivist in Hamburg (1914-1919)
  3. Publizist und Antifaschist in Berlin (1919-1933)
  4. Reichstagsbrand und Tod (1933-1938)

Reichstagsbrand und Verhaftung

Nach dem Beginn der Machtergreifung Hitlers im Januar 1933 erhöht sich der Druck auf Andersdenkende mehr und mehr. Täglich muss mit einem Verbot der Weltbühne gerechnet werden. Viele fliehen ins Ausland. Carl von Ossietzky bleibt erneut.

In der Nacht vom 27. zum 28. Februar 1933 brennt schließlich der Reichstag. Hitler und das Naziregime schaffen sich hierdurch einen Vorwand, um ihre Machtposition enorm auszubauen und gegen politische Gegner mit gnadenloser Härte vorzugehen. Carl wird verhaftet, ebenso andere Mitarbeiter der Weltbühne.1 — Was hatten die Nazis doch für eine Angst vor dem geschriebenen Wort in ihrem Wahn der Gleichschaltung!

Carl von Ossietzky im KZ Esterwegen, etwa 1934/35
Carl von Ossietzky im KZ Esterwegen, etwa 1934/35 (optimiert mit Remini AI).

Verbot der Weltbühne

Kurz darauf, am 7. März 1933, erscheint auch die letzte Ausgabe der Weltbühne:

Die Weltbühne, 7. März 1933, Nummer 10, Jahrgang 29 — die letzte Ausgabe vor dem Verbot durch die Nazis
Die Weltbühne, 7. März 1933, Nummer 10, Jahrgang 29 — die letzte Ausgabe vor dem Verbot durch die Nazis (Scan, Privatbesitz Robert Matthees).

Die nächste Ausgabe vom 14. März 1933 ist zwar bereits gedruckt, nur die Leitartikel fehlen noch. Diese werden immer erst kurz vor der Veröffentlichung beigesteuert. Doch sie wird noch in der Druckerei vernichtet.2

In der letzten Ausgabe finden sich ein paar Worte von Kurt Hiller (1885-1972), die mir an dieser Stelle sehr passend erscheinen. Hiller ist pazifistischer Publizist und Aktivist der ersten Schwulenbewegung in Deutschland. Sein Verhältnis zu Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky ist nicht immer unbeschattet. Dies liegt unter anderem an Hillers Orientierung an der Sowjetunion. Nach einer Pause publiziert er wieder in der Weltbühne. Die folgenden Gedanken zu Pazifismus, Krieg und echtem Heldentum hinterlässt uns Hiller in der Ausgabe vom 7. März 1933. Er schreibt:

“Da kommen Leute, ehrenwerte, ehrliche, von Idealen beseelte Leute […] und erzählen uns, dieser millionenfache Gastod der Männer und Mädchen, der Mütter und Kinder, der Greise und Jünglinge [im ersten Weltkrieg] habe etwas ‚Heldisches‘. […]
Ich wiederhole: es gab im Kriege Helden. Aber Held sein kann man nur aus eigner Bestimmung; und die große Mehrzahl derer, die fielen, fiel unter dem Zwang. Sie sind nicht als Helden zu besingen, sondern als Opfer zu beweinen. […]
Ich will Ihnen Beispiele von Heldentum nennen:
Der Kriegsgegner in Wehrpflichtländern, der aus Konsequenz den Militärdienst verweigert und seine Freiheit, sein bürgerliches Ansehen, seine Zukunft damit aufs Spiel setzt.
Der Arzt, der ein neues Serum an sich selber ausprobt, auf die Gefahr hin, sich zu zerstören.
Der Richter, der in einem Diktaturstaat gemäß seiner Überzeugung Urteile fällt, durch die er sich sein Grab gräbt. […]
Der Forscher, der in die Stratosphäre aufsteigt.
Der Lehrer, der antiwilhelminischen Geschichtsunterricht erteilt [das heißt: frei von Großmachtfantasien und Militarismus].
Die Liste ist verlängerbar… […]
Heldisch und pazifistisch, das ist kein Entweder-Oder. Die Trommelei für den Krieg schließt das Heldentum nicht ein, und der Kampf gegen den Krieg schließt es nicht aus.”
3

Dieser tiefen Worte zum Trotz wird dennoch der nächste Krieg folgen, als 2. Weltkrieg sogar noch schrecklicher und ideologisch entmenschlichender als der Erste.

Der letzte Verlagssitz der Weltbühne, Kantstraße 152, Berlin (Foto: Robert Matthees, aufgenommen 05.03.2023).
Der letzte Verlagssitz der Weltbühne, Kantstraße 152, Berlin (Foto: Robert Matthees, aufgenommen 05.03.2023).
Eingang, letzter Verlagssitz der Weltbühne, Kantstraße 152, Berlin (Foto: Robert Matthees, aufgenommen 05.03.2023).
Eingang, letzter Verlagssitz der Weltbühne, Kantstraße 152, Berlin (Foto: Robert Matthees, aufgenommen 05.03.2023).

Nach dem 2. Weltkrieg leitet Maud von Ossietzky eine Wiederbelebung der Wochenzeitschrift. “Solange ich lebe”, schreibt sie in der ersten Ausgabe ihrer Weltbühne vom Juni 1946,“soll dieses Blättchen ein Versuch sein, das Lebenswerk meines Mannes, des Demokraten und Pazifisten Carl v. Ossetzky fortzusetzen.”4

Die Weltbühne, Juni 1946, Nummer 1 — die erste Ausgabe der Neuauflage von Maud von Ossietzky nach dem 2. Weltkrieg
Die Weltbühne, Juni 1946, Nummer 1 — die erste Ausgabe der Neuauflage von Maud von Ossietzky nach dem 2. Weltkrieg (Scan, Privatbesitz Robert Matthees).

Die Weltbühne von Maud von Ossietzky entwickelt sich in der DDR jedoch schon bald auf Parteilinie und verliert zum Großteil ihren freien und demokratischen Charakter. Das Gleiche gilt meines Erachtens ebenso für andere, heute noch existente Wiederbelebungsversuche.5

Abschied und Ende

Es wäre noch viel zu erzählen. 

Ich könnte über Carls Verhältnis zu Kurt Tucholsky sprechen.6 Und mehr über seine Zeit als Publizist und Herausgeber der Weltbühne, oder über den Inhalt seiner vielen Vorträge für Frieden und Demokratie.

Oder darüber, wie Carl von Ossietzky bei seiner ersten Verhaftung die wunderbare Religionszugehörigkeit “Dissident” (Widerständler) auf dem Formblatt der Strafanstalt vermerkt.7

Ich könnte noch mehr von seiner späteren Verhaftung in der Nacht des Reichstagsbrandes erzählen (27./28. Februar 1933), wie seine Frau und er am Abend zusammensitzen und überlegen, ob sie auch aus Deutschland fliehen sollen. Carl sagt wohl: “Erst mal schlafen gehen!” Als es mitten in der Nacht um halb vier Uhr klingelt, sitzt er aufrecht im Bett und bekennt: “Es ist zu spät!” Und ich könnte von Maud erzählen, wie sie am Fenster steht und dem Auto hinterherblickt, in das Carl verfrachtet worden ist: “Wie ein Pfeil” schießt es davon!8

Ich könnte vom Besuch des Schweizer Diplomaten Carl Jacob Burckhardt im KZ Esterwegen berichten, der Ossietzky dort im Herbst 1935 als “zitterndes, totenblasses Etwas” vorfindet, “ein Auge verschwollen, die Zähne anscheinend eingeschlagen”.9

Oder über die Tochter Rosalinde von Ossietzky, die nach der Verhaftung ihres Vaters allein nach England geht, dann nach Schweden, um in Sicherheit zu leben:

Rosalinde von Ossietzky in London
Rosalinde von Ossietzky in London (optimiert mit Remini AI).

Ich könnte davon erzählen, wie — noch in Deutschland — ein SA Mann ihre Schildkröte “Jacky” zertritt, ein Geschenk von Carl, ihrem Vater, mit den Stiefeln der verdammten Uniform.10

Ich könnte über den Alkoholismus sprechen, den Maud entwickelt hat.11

Oder wie Carl von Ossietzky 1936 der Friedensnobelpreis verliehen wird, rückwirkend für das Jahr 1935, dessen Medaille er niemals zu Gesicht bekommt. Und wie seine Tochter Rosalinde zuvor an der Kampagne für den Nobelpreis mitwirkt, um auf die Haft ihres Vaters aufmerksam zu machen.12

Ich könnte beschreiben, wie Carl von Ossietzky — durch internationalen Druck — schließlich halbtot aus der KZ-Haft entlassen wird und wie er am 4. Mai 1938 an den Haftfolgen im Krankenhaus stirbt.13 Wie bei der Einäscherung seiner Leiche keine Totenfeier stattfinden darf und wie sich Maud daran erinnert, dass in dieser Einsamkeit wenigstens das Musikstück “Aases Tod” gespielt worden ist.14

Ich könnte all das erzählen, um zu warnen und zu zeigen, was für ein schreckliches Gesicht Faschismus und Nationalismus entfachen können, gegenüber Andersdenkenden, egal in welchem Land und zu welcher Zeit, auch wenn anfangs vielleicht noch nicht gleich alle Zähne sichtbar sind. Und ich könnte erklären, dass es genau darum so wichtig ist, Vielfalt zu zelebrieren und die Ehrfurcht vor dem Leben, und nicht Respekt und Gehorsam vor vermeintlicher religiöser und politischer Autorität. Doch viel besser wäre: Sie schauen in sich, prüfen und erkennen es selbst.

Manchmal denke ich mir sogar, dass Carl von Ossietzky durch seinen Tod am 4. Mai 1938 wenigstens nicht mehr die kommenden Novemberpogrome miterleben musste. Doch ein Trost kann das beim besten Willen nicht sein: Denn die ersten Deportationen folgen direkt (הַשּׁוֹאָה). Ein Jahr später wird der Überfall auf Polen befohlen, der 2. Weltkrieg beginnt und wird über 50 Millionen Tote fordern.

Ich könnte vielleicht noch erzählen, wie Ossietzkys Urne am Rand eines Friedhofs an einer Mauer vergraben worden ist, damals ohne Grabplatte, ohne Trauerfeier:

Grab von Carl von Ossietzky, Friedhof IV, Berlin-Pankow (Foto: Robert Matthees, aufgenommen 04.03.2023).
Grab von Carl von Ossietzky, Friedhof IV, Berlin-Pankow (Foto: Robert Matthees, aufgenommen 04.03.2023).

Wie Orchideen, die seine Frau hier am Abend niedergelegt hat, noch über Nacht wieder verschwunden sind, und wie Maud von den Nazis gezwungen wird, wieder ihren Geburtsnamen anzunehmen, auf dass sich niemand mehr an den Namen Ossietzky erinnern möge.15 Doch das mache ich nicht, denn wir sind hier, um an ihn zu erinnern.

Und natürlich erkennen wir dabei, wie wichtig es ist, dass wir uns heute nicht nur auf seinem Namen ausruhen, sondern dass wir die von Carl von Ossietzky vorgelebten Ideale in unserem eigenen Denken und Handeln jeden Tag neu verwirklichen.

Vielen Dank für Ihr Interesse und Engagement!

Robert Matthees
Hamburg, März 2023


Fußnoten

  1. Vgl. Ossietzky, M. v.: Maud v. Ossietzky erzählt, 1988, S. 89. (hoch zur Textstelle)
  2. Vgl. Flechtmann, F.: Das Ende der „Weltbühne“ – Das letzte Heft im März 1933 (28. Juni 2009). URL: https://frank.flechtmann.net/2009/06/das-ende-der-weltbuhne-das-letzte-heft-im-marz-1933/. (hoch zur Textstelle)
  3. Hiller, K.: Heroismus und Pazifismus. In: Die Weltbühne, 7. März 1933, Nummer 10, Jahrgang 29, S. 349- 355, hier S. 353/354. (hoch zur Textstelle)
  4. Ossietzky, M. v.: Zum Geleit. In: Die Weltbühne, Nr. 1, 4. Juni 1946, S. 1. (hoch zur Textstelle)
  5. Höge, H.: Meinungsterror – „Ossietzky“ (West) und „Das Blättchen“ (Ost) wollen die „Weltbühne“ beerben. In: taz, 27. 1. 1998, S. 18. URL: https://taz.de/Meinungsterror/!1362109/. (hoch zur Textstelle)
  6. Vgl. Sternburg, W. v.: Carl von Ossietzky, 2000, S. 205-214; vgl. Kästner, E.: Tucholsky, Ossietzky, “Weltbühne”. In: Die Weltbühne, Nr. 1, 4. Juni 1946, S. 21-23. (hoch zur Textstelle)
  7. Ossietzky, C. v.: Lebenslauf nach einem Fragebogen der Strafanstalt (10. Mai 1932). In: Sämtliche Schriften, Band VII, 1994, D 327, S. 435. (hoch zur Textstelle)
  8. (Vgl.) Ossietzky, M. v.: Maud v. Ossietzky erzählt, 1988, S. 88-90. (hoch zur Textstelle)
  9. Zitiert nach: Lenz, M.: Carl von Ossietzky: Ein mutiger Pazifist. NDR.de 25.11.2019. URL: https://www.ndr.de/geschichte/koepfe/Carl-von-Ossietzky-Ein-mutiger-Pazifist,carlvonossietzky100.html. (hoch zur Textstelle)
  10. Vgl. Interview mit Tochter Rosalinde. In: Ossietzky, M. v.: Maud v. Ossietzky erzählt, 1988, S. 157-159. (hoch zur Textstelle)
  11. Vgl. Interview mit Tochter Rosalinde. In: Ossietzky, M. v.: Maud v. Ossietzky erzählt, 1988, S. 150/151; vgl. Boldt, W.: Carl von Ossietzky, 2019, S. 54. (hoch zur Textstelle)
  12. Vgl. Interview mit Tochter Rosalinde. In: Ossietzky, M. v.: Maud v. Ossietzky erzählt, 1988, S. 160. (hoch zur Textstelle)
  13. Vgl. Ossietzky, M. v.: Maud v. Ossietzky erzählt, 1988, S. 129-137. (hoch zur Textstelle)
  14. Vgl. Ossietzky, M. v.: Maud v. Ossietzky erzählt, 1988, S. 135-137. (hoch zur Textstelle)
  15. Vgl. Ossietzky, M. v.: Maud v. Ossietzky erzählt, 1988, S. 137/138. (hoch zur Textstelle)

Ende Carl von Ossietzky in 30 Minuten